„ein schöner Augusttag des Jahres 1913“

Musil Buchseite

»Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war …«

Disruptiv schlagen wir an dieser Stelle auf den Tisch – die Frage stellend: Was will uns der Dichter damit sagen? Welcher Dichter eigentlich? Es handelt sich um Robert Musil – und der in seiner spektakulären Umständlichkeit herausragende Auftakt stammt aus seinem Hauptwerk „Der Mann ohne Eigenschaften“, das zu den ganz großen Würfen des 20. Jahrhunderts gehört, wenn man von Weltliteratur spricht.

Eine Lektion für Texter von Robert Musil

Was diese ersten Sätze so interessant macht, ist der Lerneffekt, den man als angehender oder gereifter Texter gewinnt. Was Musil hier mit 115 Wörtern vor Augen führt, ist, dass man mit kompliziertem Content auch das banalste Sachlage beschreiben kann. Und das wäre? Lesen wir zu Ende:

»… Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.«

Aus der Praxis geplaudert

Wer mit der Aufbereitung von komplizierten Texten und Content – insbesondere aus den Branchen wie der Industrie und IT – zu tun hatte, weiß wie anspruchsvoll die Aufgabe ist, hoch komplexe Materie für eine Zielgruppe, die nicht zum eingeweihten Fachpublikum gehört, verständlich zu machen. Ein heroischer Akt in puncto pädagogischer Reduktion 😉


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