Scheerbart & Lichtenstein

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Der Hörbuchmarkt boomt seit Jahren. Abseits der großen Flut der Durchschnitts- und Billigproduktionen findet sich doch immer wieder die eine oder andere überraschende Verästelung. Eine davon hat die hoerbuchedition words & music ins Leben gerufen. Mit Produktionen zu den beiden Autoren Paul Scheerbart (1863-1915) und Alfred Lichtenstein (1889-1914) legt der Verlag hochklassige Hörbücher vor, wie man sie viel zu selten in die Hände bekommt.

Das Konzept der beiden Audiobooks ist identisch: kurze Texte und Gedichte zu unrecht nahezu vergessener Autoren der klassischen Moderne werden von ebenso klang- wie namhaften Stimmen vorgetragen und eingehüllt in jazzig experimentelle Musik. Inhaltlich freilich unterscheiden sie sich.

„Scheerbartiana“ – Paul Scheerbart

Im Fall der „Scheerbartiana“ – so der Titel der ersten Produktion – handelt es sich um eine Auswahl kürzerer Prosatexte, die einen tiefen Einblick in die Gedankenwelt des humorvollen Phantasten Paul Scheerbart ermöglichen sollen, vorgetragen von Andreas Mannkopff und musikalisch „scheerbartisiert“ von Kurt Holzkämper und Phon B. Dazu gibt es ein umfangreiches und mit viel Liebe gestaltetes Booklet mit vielen Informationen und phantastischen Zeichnungen des Dichters und Graphikers Scheerbart.

„Ich hebe meine Augen in die Welt– Alfred Lichtenstein

Die Kombination von Komik und unter- und hintergründigem Ernst, ja Verzweiflung findet sich auch bei Scheerbarts Zeitgenossen Alfred Lichtenstein – wenn auch in anderer Form. In schrillen Gedichten und grotesken Prosatexten, die Lichtenstein zu einer wichtigen Erscheinung des Frühexpressionismus werden ließen. Auf „Ich hebe meine Augen in die Welt” interpretieren Barbara Wittmann und Detlef Bierstedt ausgewählte Werke: Porträts von Trinkern, grauen Clowns, Irren, Huren und Rummelplatzgestalten, von himmelblauen Exzentrikern, unschuldigen Kindern, parfümierten Pudeln und „eigen schauenden Frauen“, von verrückten Literaten, Bürokraten und geschundene Rekruten. Den buckligen Dichter Kuno Kohn, ein Alter Ego Lichtensteins, treffen wir im „Café Klößchen“ und erleben mit ihm eine sehr seltsame Liebesgeschichte. Alle Texte Lichtensteins summieren sich zu einem bizarren Bild der magisch beleuchteten Stadtlandschaft Berlins. Am Ende steht der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die frühen lyrischen Todesahnungen des Dichters werden plötzlich grausamste Realität. Musikalisch eingefasst in expressive Klangbilder wurde dieses Hörbuch von zwei der kraftvollsten und farbenreichsten Instrumentalisten der internationalen Jazzszene: Aki Takase und Michael Griener.

FAZIT
Schöne Produktionen, die sich durch Konzentration auf Autoren abseits der Mainstreams und originelle Umsetzung auszeichnen.

Weitere Infos: www.words-and-music.de


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