Verwirklichte Träume

Träume verwirklichen – das wünschen wir uns alle, Claus Rudolph tut es, und das ganz konkret, im wahrsten Sinne des Wortes. Mit seinen Bildern setzt der Fotokünstler seinen somnambulen Imaginationen ein äußerliches Gleichnis: Er erschafft surreale Kunstwerke, die ihren Betrachtern die Hand reichen, um sie für Momente aus den Fesseln der Wirklichkeit in ihre Traumwelten zu ziehen.

Ein Samstagnachmittag im Westen Stuttgarts, oben auf der Höhe des Tals, die Reinsburgstraße entlang, vorbei an Menschen mit Masken, dann zwischen Häusern und Bäumen steinerne Stufen hinab zu einem Tor mit Eisenstäben. Ein Bild ist hier angebracht: Ein stattliches Rhinozeros auf einem Kahn im Wasser; auf dem Tier eine Frau in Pose, vor ihm ein Mann als Lenker. Wir befinden uns vor dem Atelier des Fotografen Claus Rudolph. Er öffnet die Tür, freundlich lächelnd, elegant und sportlich gekleidet, Sakko, Sneakers, Jeans. Wir überlegen angesichts verwirrender Corona-Schutzmaßnahmen, wie wir uns begrüßen und geben uns schließlich lachend den kleinen Finger.

Zwischen Katakomben und Filmkulisse

Surreal geht es weiter: „Magisches Theater – nur für Verrückte – Eintritt kostet den Verstand. Nicht für jedermann.“ – Die Passage aus Hermann Hesses „Steppenwolf“ ist meine erste Assoziation auf den etwa zwanzig Treppenstufen auf dem roten Teppich hinab ins Atelier. In den Räumlichkeiten, in denen Claus Rudolph arbeitet, vermischt sich die Atmosphäre von Katakomben mit dem Ambiente von Filmkulissen, umrahmt von riesigen Scheinwerfern und ungewöhnlichen Utensilien. Alles etwas unwirklich, im positiven Sinne. Hier finden sich einige der Bilder, die der Sechsundsechzigjährige im Laufe seiner Karriere als Künstler geschaffen hat in beeindruckenden Großformaten. Beim Kaffee – aus einer echten Siebträgermaschine, alles andere wäre ein Stilbruch – berichtet Claus Rudolph über die aktuelle Lage infolge der Corona-Maßnahmen: „Die Ausnahmesituation macht sich natürlich stark bemerkbar. Geplante Ausstellungen mussten in den letzten Monaten abgesagt werden. Damit einher gehen wirtschaftliche Einbußen, doch ist Besserung in Sicht. Es läuft wieder an.“

Claus Rudoph in seinem Atelier in Stuttgart (Foto: Christian Liederer)

Theater der Träume

Vor uns auf der Kaffeebar liegt ein Ausstellungskatalog, in dem zahlreiche Bilder des Künstlers vereint sind. Eigentlich sind es keine Bilder, sondern Kompositionen. Sie wirken wie Momentaufnahmen aus opulenten Filmen, die nie gedreht wurden. Sie erinnern an Fellini und Peter Greenaway und huldigen in oft überbordender Pracht dem schönen Schein der Ästhetik – Visionen wider die Wirklichkeit, Naturalismus wird negiert. In einer unverwechselbaren Farb- und Formsprache errichtet Claus Rudolph mit seinen Bildern ein Theater der Träume. Er ist der Regisseur seiner Phantasien, die er aus der Welt der Vorstellung in die Realität transferiert, zuerst mit dem Skizzenbuch, dann mit Modellen und dem Fotoapparat. Die Traumwelten verweben Motive wie unerfüllte Sehnsüchte, Genuss, Leben und Liebe, Sinnlichkeit und Leidenschaft, Verlust, Tod und Trauer. „Die Quelle meiner Bilder ist der Zustand des Halbschlafs“, erklärt der Künstler. „Sie kommen meist frühmorgens vor dem Aufstehen oder nachmittags, wenn ich mich ausruhe. Es gibt Träume, die sich verflüchtigen, und solche, die haften bleiben; oft müssen sie relativ schnell aufgezeichnet werden, um sie festzuhalten. Es ist eine Reise zwischen Realität und Traumbildern.“


©Christian Liederer. Erschienen im Magazin Go for More. Dieser Beitrag darf gerne geteilt, Texte zitiert werden. Das Urheberrecht und geistige Eigentum sind durch den Verweis auf die Quelle zu beachten.